Nach dem ICD-10 versteht man unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), eine „verzögerte Reaktion auf extreme Bedrohungssituationen“ wie Krieg, Gewalt, sexueller Missbrauch, Autounfall, etc. Man spricht vom sog. „Schocktrauma“.
Die meisten von uns sind aber durch wesentlich „unspektakulärere“ Erlebnisse, meist aus der frühen Kindheit geprägt. Durch Demütigungen, ein strenges oder gefühlskaltes Elternhaus, Vernachlässigung, häufige Umzüge oder Wechsel der Bezugspersonen. Oder auch durch psychische Erkrankungen der Eltern (Alkoholismus, Depression, Persönlichkeitsstörungen), etc. Man spricht dann vom sog. „Entwicklungstrauma“.
Auf der „Low-Energy“ Seite kann sich das Trauma durch Antriebsmangel, ausdrucksloses Gesicht, Geistesabwesenheit, wenig modulierte Sprache, etc. zeigen. Auf der „High-Energy“ Seite erleben wir die andere Seite des Spektrums: Es ist zu viel Energie im System, dies führt zu erhöhter Wachsamkeit (Hypervigilanz), Unruhe, Getriebenheit, Sprechen mit greller und angespannter Stimme, etc.
Bei beiden Typen finden wir physische und psychische Phänomene wie:
Auf der Verhaltensebene finden wir Isolation, Drogenkonsum, Beziehungsprobleme, Aggression, Selbstverletzung, Verharren in leidfördernden Beziehungen (Gewalt in der Ehe), etc.
Oft drückt der Köper den erlebten, unverarbeiteten Schmerz durch verschiedene chronische Erkrankungen aus wie: Asthma, Reizdarm, Fibromyalgie, allg. Autoimmunerkrankungen, Erschöpfungszustände, etc.
Durch bildgebende Verfahren wurde bestätigt, dass die Gehirne traumatisierter Menschen anders funktionieren, als die Gehirne „gesunder“ Menschen:
Nach einem traumatischen Erlebnis (egal ob Schock- oder Entwicklungstrauma) erleben wir die Welt mit einem veränderten Nervensystem. Meist verteidigt sich unser Körper immer weiter in Form von Stressreaktionen gegen eine Bedrohung, die längst nicht mehr besteht. Oder wir leben mit einer Depression und haben das Gefühl, nichts in der Welt zustande zu bringen.
Unser autonomes Nervensystem (auch vegetatives Nervensystem) kann dreierlei physiologische Zustände initiieren, die wichtig für unser Überleben sind. Welche Reaktionsweise zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiviert wird, ist abhängig vom SICHERHEITSGRAD der aktuellen Situation.
Dieses System ist entwicklungsgeschichtlich am jüngsten. Es wird durch den neuesten Teil unseres Vagusnervs (ventraler oder vorderer Vagusast) aktiviert. Es ermöglicht uns, Trost und Hilfe bei anderen Menschen zu suchen, indem wir in Kontakt gehen und kommunizieren, oder Erlebnisse der Verbundenheit miteinander teilen.
Finden wir keine Hilfe bei anderen, retten wir uns durch Kampf oder Flucht. Dieses High-Energy System initiiert die Stressreaktion und mobilisiert den Organismus, indem das Herz schneller schlägt, der Blutdruck steigt, etc. Gleichzeitig wird das System der sozialen Verbundenheit deaktiviert. Wir sind nicht mehr in der Lage, anderen zuzuhören und interpretieren Gesichtsausdrücke falsch.
Dieses System ist das älteste, welches wir mit den Reptilien teilen. Es wird durch den ältesten Teil unseres Vagusnervs (dorsaler oder hinterer Vagusast) aktiviert. Ist eine Flucht nicht möglich, z.B. weil wir festgehalten werden, eingesperrt sind oder uns nicht trauen, uns zu wehren oder etwas zu sagen, weil das Gegenüber zu bedrohlich ist, rettet sich unser Organismus, in dem er „abschaltet“, sich „tot“ stellt. Es wird dann kaum noch Energie verbraucht.
Für die meisten Menschen, die ein Trauma erlebt haben, ist dieser Zustand typisch. Er ist eigentlich eine Kombination aus Reaktionsweise 2 und 3, aus gleichzeitiger Mobilisierung und Immobilisierung: Die Herzrate steigt, der Blutdruck ist hoch (Angst), gleichzeitig kommt es zur Erstarrung. Die Folgen sind Dissoziation („weggehen“), Ohnmacht und das Erleben eines Zusammenbruchs.
Die Heilung eines Traumas geschieht auf der Ebene des autonomen Nervensystems dadurch, dass wir lernen, in das Reaktionssystem „soziale Verbundenheit“ zu wechseln.
Als Therapeut*innen nutzen wir das Wissen über den Vagusnerv, der uns viele therapeutische Interventionsmöglichkeiten bietet. Bei traumatisierten Menschen ist der Tonus des vorderen („sozialen“) Vagus meist gering und auch andere Hirnnerven sind in ihrer Funktionalität gestört. Der Vagusnerv ist der 10. Hirnnerv, er ist mit anderen „sozialen Nerven“ verbunden, z.B. dem Hörnerv, den Gesichtsnerven (5. und 7. Hirnnerv), dem Zungen- und Rachennerv (9. Hirnnerv) und dem 11. Hirnnerv, der für die Bewegung von Hals und Kopf sorgt. Stimulieren wir diese Nerven, wird auch der Vagusnerv beeinflusst und sein Tonus kann sich erhöhen, was sich durch Entspannung und das Gefühl der Sicherheit und Freude ausdrücken kann. Eine tiefe Bindung mit anderen Menschen können wir nur eingehen, wenn diese Nerven gut funktionieren. Sie erleichtern das Hören, formen Laute, wenn wir sprechen, helfen uns zu verstehen, was andere Menschen sagen, und helfen uns, visuelle Signale auszutauschen.
Selbstregulation
Co-Regulation
Durch all diese Interventionen können wir, bzw. unsere Klient*innen in das „System soziale Verbundenheit“ wechseln, welches nachhaltige körperliche und psychische Gesundheit zur Folge hat. Reine Gesprächstherapien, sowie Psychopharmaka vermögen dies nicht herzustellen.
In Modul 6 der Integralen Yogatherapieausbildung (Yogatherapie bei PTBS) erlernen wir diverse Techniken zur Aktivierung des „Systems soziale Verbundenheit“. Daneben werden didaktische Regeln zum Yogaunterricht bei Menschen mit traumatischem Hintergrund vermittelt.
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